Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht, Europarecht, Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Universität Zürich, legt dar, dass die Volksinitiative “Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)” eine illusionäre Reaktion auf ein ernstes Problem und auf eine irreversible Entwicklung ist.
Auszüge (Link zum vollständigen Artikel siehe unten):
“In der Langzeitperspektive betrachtet haben sich die Politikbedingungen für hochindustrialisierte Demokratien in einer Weise verändert, die strukturellen Druck zur „Hochzonung“ der Politik auf höhere Politikebenen erzeugt. (…) All dies bedeutet, dass der Anteil an rein autonom, durch innerstaatliches Recht lösbaren Fragen nicht nur abgenommen hat, sondern weiter abnehmen wird. Und zwar unvermeidbar.
Wie sollen Demokratien moderner Industriestaaten auf diesen Megatrend reagieren? Das ist eine – vielleicht die – kardinale Frage ihrer Zukunft. Die Initiative ist vor diesem Problemhintergrund zu sehen. Betrachtet man ihre Entstehungsgeschichte, so ist sie eine Reaktion auf Bemühungen des Bundesgerichts, das schleichend wachsende Koordinationsproblem Völkerrecht-Landesrecht via Vorrang des Völkerrechts zu entschärfen. (…)
Am Grundproblem führt kein Weg vorbei: Dass es eine der grossen und nur schwer zu bewältigenden Herausforderungen der staatlichen Demokratie im 21. Jahrhundert sein wird, sich auf die Dominanz des international-kooperierenden Politikmodus und seine Folgen umzustellen – mit all seinen überwiegend negativen Auswirkung auf die kleinräumige Demokratie. Das Wissen um dieses Grossproblem scheint mir zentral dafür, wie man der Initiative und auch ihren möglichen Nachfolgern angemessen begegnet: nicht mit moralischer Diskreditierung von Anliegen und Exponenten, obschon sie eindeutig inadäquat ist, sondern ehrlicherweise mit der Anerkennung der Existenz eines echten Problems für die staatliche Demokratie. Verluste, soweit sie unvermeidlich sind, sollten als solche benannt werden. Die Realität holt einen sonst über kurz oder lang umso heftiger ein, denn der Trend ist eindeutig. Wie aber ist eine solche Vermittlung von Unangenehmem in einer Zeit zu leisten, in der die Politik Zumutungen an die Bevölkerung scheut wie der Teufel das Weihwasser?
Das Problem wird sich nicht von alleine lösen. Eine adäquate Antwort aber wird man finden müssen – eine Antwort, die von uns etwas abverlangt und die im Unterschied zur „Selbstbestimmungsinitiative“ nicht bloss Illusionen über die Unabhängigkeit unterstützt.”
Diggelmann geht auch auf den Einwand ein, auch andere Länder würden ihr Landesrecht dem Völkerrecht überordnen. Dies treffe zwar in vielen Fällen zu, jedoch bestehe
“das erste konzeptionelle Problem der Initiative (…) darin, dass „Vorrang der Verfassung vor Völkerrecht“ in der Schweiz im Ergebnis etwas anderes bedeutet als anderswo. Warum? Vereinfacht gesagt: wegen des leichten Zugriffs auf die Verfassung insbesondere mittels der Volksinitiative, d.h. wegen der tiefen Änderungsschwelle. Die Verfassung ist bei uns in der Schweiz nicht einfach nur der Politikrahmen, der, wie etwa in Deutschland oder den Vereinigten Staaten, selten verändert wird. Sie ist vielmehr auch – nach dem Empfinden mancher gar überwiegend – Instrument der Alltagspolitik. Mittels Initiativen wird Partikulares und auch Tertiäres in die Schweizer Bundesverfassung geschrieben: etwa ein Straftatbestand gegen Sozialmissbrauch oder Details zur Wegweisung von Ausländern. Wenn solcherart Nicht-Grundlegendes Vorrang gegenüber geltenden internationalen Verträgen erhält, weil es eben in der Verfassung steht, so fördert dies tendenziell die Instabilität völkerrechtlicher Bindungen.
Das zweite konzeptionelle Problem der Initiative hat mit der unbedingt formulierten Anpassungsverpflichtung bei einer Kollision zwischen Verfassung und Völkerrecht zu tun. Steht Völkerrecht mit vorrangigem Landesrecht im Widerspruch, so die vorgeschlagene Regel, dann muss die völkerrechtliche Bindung angepasst oder gegebenenfalls gekündigt werden. Diese „harte“ Wenn-dann-Bestimmung nimmt auf die Spezifika der Politikgestaltung durch völkerrechtliche Verträge und via internationale Organisationen keine Rücksicht – auf den Umstand etwa, dass man oft ein „window of opportunity“ abwarten muss, um etwas zu verändern, falls dies überhaupt geht. Auch sind bestimmte Fragen nur „im Paket“ gestaltbar. Manche solcher „package deals“, etwa das World Trade Organization-Regime, sind faktisch gar unveränderbar. Man kann sie nur als Ganzes akzeptieren oder verwerfen. Anpassungs- und Kündigungszwang infolge Widerspruch zur Verfassung bedeutet hier Kündigung des ganzen Vertragswerkes. (…)”
Link zum Artikel “Demokratie und internationale Kooperation. Das tiefere Problem hinter der ‘Selbstbestimmungsinitiative’.” Erschienen in “Geschichte der Gegenwart”.
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